Kolumne: Goodbye Elternhaus! Dieses Haus war 34 Jahre mein Zufluchtsort. Wie kann man den Abschied vorbereiten?
- Hanna Kuschel

- 21. Feb.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Aug.

Dieser Text erschien zuerst am 09.05.2023 auf amazedmag.
Denk ich an mein Elternhaus, dann denk ich sofort an unseren riesigen Garten. Wild und verwunschen. Hier darf wachsen, was will. Natur pur.Denk ich an mein Elternhaus, dann denk ich an die Zufahrt zum Haus. Über Hubbel und Schlaglöcher führt sie hinunter ins Tal, vorbei an Wiesen und Kühen, bis das Fachwerkhaus zur Rechten zu sehen ist. Bei Schnee und Eis eine einzige Rutschpartie. Vielen Besuchern wurde das zum Verhängnis: Dein Auto? Müssen wir jetzt hochschieben.Denk ich an mein Elternhaus, dann denk ich daran, dass Nachhausekommen schön ist. Dass es wie Pausetaste-Drücken ist. Alles wie immer, hier steht die Zeit still. Mariaweiß-Geschirr auf dem Tisch, Tee ist warm, wie war die Fahrt? Erstmal in den Kühlschrank gucken.
Dieses Haus, mein Elternhaus, liebe ich über alles. Und davon möchte ich mich verabschieden. Offiziell gibt es dafür keinen Grund: Meine Eltern wohnen drin, ich bin regelmäßig zu Besuch, von Abschied keine Rede.Und doch glaube ich, dass meine Eltern dort nicht ewig wohnen werden. Oder können: Meine Mutter ist 78 Jahre alt, mein Vater 73. „Die Wehwehchen nehmen zu“, würde ich gerne schreiben, aber das ist untertrieben. 140 Quadratmeter Wohnfläche und 2500 Quadratmeter Garten pflegen sich nicht von alleine. Mein Bruder Ben muss Teile des Gartens mit der Sense mähen, so steil ist er (also der Garten). Dass meine Eltern den ganzen Platz schon lange nicht mehr brauchen, steht auf einem anderen Blatt.
Was meine Eltern dazu sagen, dass ich einen Artikel über den Abschied von unserem Familienhaus schreibe? Sie wissen es nicht. Ihre Reaktion wäre wahrscheinlich: Abschied? Wieso denn Abschied? Wir bleiben hier, so lange wie’s geht. Dass sie keinen Bedarf für Abschied sehen, ist okay. Das ist ihre Realität. Viele Eltern verpassen den rechtzeitigen Absprung aus dem Familienhaus und werden irgendwann durch äußere Umstände, Notfall, Kurzzeitpflege, aus ihrem Umfeld gerissen.
Viele Eltern verpassen den rechtzeitigen Absprung aus dem Familienhaus und werden irgendwann durch äußere Umstände, Notfall, Kurzzeitpflege, aus ihrem Umfeld gerissen.
Dass ich hingegen Bedarf für Abschied sehe, ist meine Realität. In meinem Freundeskreis wurden schon zwei Elternhäuser verabschiedet – und ich will vorbereitet sein. Dieses Haus ist schließlich auch mein Zuhause. Es beheimatet so viel: Hier hab‘ ich laufen gelernt und mit meinen Brüdern Weihnachtsbäume geschmückt, hier hab ich als Teenie in den Vorgarten gespien und hierhin bin ich nach meiner Trennung geflüchtet. Mein Kinderzimmer gibt es noch, es ist das einzige. Da steht immer noch mein Carpe Diem an der Wand mit den hübschen, monochromen Wandbuchstaben vom Impressionen-Shop. Wenn dieses Haus weggeht, dann geht auch ein Stück von mir weg. Meine Eltern und ich, wir, müssen uns über den Zeitpunkt des Abschieds also nicht einig sein. Das hier ist meine Perspektive.
Die Psychologie des Elternhaus-Verabschiedens
Ein Abschiedsprozess dauert ungefähr zwei Jahre, sagen Psychologen. Nach zwei Jahren hat man realisiert, dass ein geliebter Mensch nicht mehr da ist. Gilt das auch fürs Abschiednehmen vom Elternhaus? Zwei Jahre nochmal bewusst erleben, und dann: „Jap, fertig, losgelassen, bitte nehmen Sie dieses Haus!“ sagen?Kaum etwas symbolisiert Sicherheit und Geborgenheit so stark wie das Haus der eigenen Kindheit. Ein Nest, das immer offensteht, 24/7, 365 Tage im Jahr. Ein Ort, in dem Menschen geformt werden. Will man seinem Kind einen Gefallen tun – ihm zum Beispiel ein stabiles psychisches Grundgerüst fürs Leben mitgeben – so ist es das Beste, was man tun kann: ein beständiges, warmes Zuhause schaffen. Ob Haus oder Wohnung ist dabei ganz egal.
Muss man diesen Ort aufgeben, signalisiert das: Kindheit vorbei.
Dann ist es Zeit, die alten Schulhefte wegzuschmeißen. Das Gefühl des Abschieds sagt: In Zukunft kannst du nicht mehr „einfach so“ Unterschlupf finden, du musst auf eigenen Beinen stehen. Wenn ich das so schreibe, berührt mich das seltsam wenig, auf eigenen Beinen stehe ich ja eh schon. Es heißt aber auch: Wenn ich in Zukunft nach Hause fahre, werde ich diesen Ort nicht mehr sehen. Ich bin zwar in der Heimatstadt, schlafe aber woanders. Ich kann zwar zum Haus gehen, es aber nicht mehr betreten. Die Schachtel, die meine Erinnerungen zusammengehalten hat, sie ist dann weg. Was hält denn dann meine Erinnerungen zusammen?
Und da schwingt auch mit: Lebenszeit begrenzt, Mama und Papa sind nicht unsterblich. Das Fundament, es schwankt.
Gibt es noch etwas, das ich klären will? Welchen Auftrag hat mir dieses Elternhaus mitgegeben? Habe ich diesen Auftrag erfüllt – oder will ich mich davon lösen? Nicht umsonst steht der Begriff Elternhaus auch synonym für die Familie mit ihrem prägenden, erzieherischen Einfluss. Das Elternhaus-Verabschieden als finaler Schritt der Abnabelung von Zuhause. Die Herkunft loslassen. Der einzige Weg, der nun bleibt, ist der Blick nach vorne, das Hinwenden zur eigenen Zukunft. Trennungsschmerz. Wachstumsschmerz.
Den Abschied vorbereiten
Seit ungefähr anderthalb Jahren denke ich, dass ich mich so langsam verabschieden sollte. Davor hatte ich die Idee verworfen, ein Tiny House in den Garten meiner Eltern zu setzen. Das wäre nett, solange meine Eltern im Haupthaus nebenan wohnen. Aber sobald Fremde vor meiner Tiny-House-Terrasse grillen, fühlt es sich nicht mehr richtig an.
Seitdem versuche ich, jeden Wechsel der Jahreszeiten bewusst zu erleben. Der Frühling kommt? Mit ihm der Bärlauch neben dem Komposthaufen. Sommer heißt: Yoga in der Morgensonne mit Blick in den Wald. Der Herbst bringt Kiwis überm Hasenstall. Winter: Hoffentlich kein Schnee.
Ich gehe mit offenerem Blick durchs Haus. Entdecke es, als würde ich es zum ersten Mal betreten. Hing dieses Bild schon immer da? Weshalb haben meine Eltern es angeschafft? Was verbinden sie damit?
Manchmal komme ich direkt dazu, zu fragen, dann werden sie ganz nostalgisch. Oft finde ich auf diesen Touren eine Kleinigkeit, die ich unbemerkt in meine Stadtwohnung mitnehme: eine Saftkaraffe hier, eine versilberte Zuckerschale dort. Ein Stückchen Herkunft, das ich mit in meine Zukunft nehme.
Auf meinem Handy habe ich einen Ordner, der „Heimkommen“ heißt. Hierhin verschiebe ich Fotos, die ich schön finde und die mich sentimental stimmen: der Garten in saftigem Grün, Johannisbeer-Baiser-Kuchen auf Silbertablett neben Mudsch; mein Vater, der Hecke schneidet. Ein Familien-Fotoshooting habe ich aus dem Studio in den Garten verlegt. Nochmal für Verewigung sorgen, für das Haus und alle, die dazugehören. Eines Tages sind die Fotos mein einziges Rückfahrticket in die Zeit von damals, als noch alles gut war. Mein Vater hat sich vor dem Haus malen lassen. Gut gelaunt, mit ausgestrecktem Daumen.
Was ich noch machen will: Mir einen Ort auf neutralem Gelände suchen, von dem aus ich mein Elternhaus gut im Blick habe. Einen Ort, den ich besuchen kann, wenn dieses Haus nicht mehr uns gehört, ich nicht mehr hineingehen kann, mich aber nahe fühlen will. Einen Ort, den ich vorher noch emotional aufladen kann, vielleicht steht daneben ein Baum, in den ich ritze: „Hier sitzt Hanna, die auf ihr Elternhaus blickt und wünschte, sie könnte die Zeit anhalten.“



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